"Es ist Zeit."
Audio-Seminar zur Politischen Lyrik nach 1945
Eine Reihe im Rahmen von „Brot & Spiele" - dem Politikmagazin des Freien Radio Potsdam, initiiert und moderiert von Kati Nicke
"Aufgrund widriger Arbeitsumstände gab Sabine Volk ihren Lehrauftrag an der Universität Potsdam für ein Seminar zu Politischer Lyrik zurück: Überfüllte Hörsäle und schlechte Bezahlung - dagegen machte die junge Doktorandin mobil - und zog zuletzt die Konsequenzen. Jetzt bringt sie ihr zuletzt konzipiertes Seminar im Rahmen des Politikmagazins "Brot&Spiele" zu Gehör. Wir wagen hier die Verquickung von Literatur und Politik und bieten Politische Lyrik on Air - als kleines Audio-Seminar."
"Das Paradies kann sich rar machen, das ist so seine Art." (Christa Wolf)
"Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs", schreibt Paul Celan in seiner für unser Audio-Seminar zur Politischen Lyrik zentralen Meridian-Rede, doch: "Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben." Das Engagement, welches das politische Gedicht - wie die politische Literatur überhaupt - kennzeichnet, liegt nach Celan "im Geheimnis der Begegnung", denn: "Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu." Eine Annäherung an Paul Celans Lyrik-Begriff wird in dieser vierten Folge des Audio-Seminars entsprechend in Form eines Gesprächs zwischen zwei Menschen stattfinden, die das "Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende" in Celans Dichtung nicht nur bereits aufgespürt, sondern auch praktisch umgesetzt haben.
GEMA-freie Fassung des Features:
Playlist
Quadro Nuevo: Secret Garden
Tarkovsky Quartet (Francois Couturier): A celui qui a vu l'ange
Quadro Nuevo: Aus der Stille der Nacht
Cat Power: Wild is the wind
Olaf Rosenwinkel und Guido Münch: Zähle die Mandeln
paulcelanfreitod.jimdo.com, besucht am 24.1.2012
Tarkovsky Quartet (Francois Couturier): Tiapa
Rezitierte Gedichte
(Paul Celan)
(Maximilian Thieme)
(Aus dem Radio-Feature „Politische Lyrik IV: Zum ,Geheimnis des Begegnung‘, gesendet am 5. Dezember 2011 im Freien Radio Potsdam)
„Am 1. Dezember 2011 ist die große politische Schriftstellerin Christa Wolf gestorben. Die Nachricht über ihren Tod hat mich berührt. Allerdings nicht so sehr wie einige mir nahestehende Menschen, für die Christa Wolf weit mehr war als ein Bücher schreibender Mensch. Mit der Zerrissenheit, von der ihr Werk zeugt, kann ich mich als Frau, Mutter, politische Dichterin (wenn ich mich so nennen darf), aber vor allem als liebender – und dadurch nicht selten verzweifelnder – Mensch identifizieren. Doch einigen meiner Freund*innen, die einen Teil ihres Lebens in der DDR gelebt haben, bedeutet Christa Wolf, wie ich feststellen konnte, noch weit mehr. Ein Freund schrieb mir, Christa Wolf habe (in Anlehnung an ein Zitat von Heiner Müller) in ihrem Werk die Utopie aufbewahrt – für bessere Zeiten. In meinen Augen gibt es kaum ein größeres Kompliment für eine Schriftstellerin, die für eine menschlichere, sozial gerechtere, freiere Gesellschaft gekämpft hat und damit - zunächst - gescheitert ist.
Am 4. November 1989 hielt Christa Wolf anlässlich der größten Demonstration in der Geschichte der DDR, die von Künstler*innen ausgegangen war, eine Rede mit dem Titel „Verblüfft beobachten wir die Wendigen…“. In dieser warnt sie vor dem unmenschlichen Charakter einer sich dem Diktat des Kapitalismus unterwerfenden Demokratie und plädiert für einen selbstbewussten, demokratischen Sozialismus. Sie zeigt uns, dass es trotz aller Rückschläge gilt, die Kunst als einen vor der zerstörerischen Kraft des Kapitalismus (der Profitmaximierung, der Marktlogik) geschützten Raum zu bewahren. Und, da es immer noch wichtig zu sein scheint, möchte ich betonen, dass dies kein genuin marxistisches Anliegen ist, sondern in allererster Linie ein zutiefst menschliches.
Ihre Rede vom 4. November 1989 beginnt Christa Wolf mit den Worten: „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache.“ Hier trifft sie sich mit Paul Celan und vielen weiteren engagierten Schriftsteller*innen. Die Aufgabe ist klar benannt: Es geht darum, dass wir, die wir nicht aufhören wollen, an die Möglichkeit der Realisierung einer menschlicheren Gesellschaft zu glauben, uns zu erkennen geben, uns verbünden und gemeinsam kämpfen. Ein Scheitern und Rückschläge auf diesem Weg dürfen uns nicht aufhalten. Im Gegenteil. Unsere (Selbst-)Befreiung kann schon heute mit der Befreiung der Sprache beginnen. Denn unsere Sprache ist die schärfste Waffe im Kampf um eine menschlichere Gesellschaft.
In „Nachdenken über Chista T.“ schreibt Christa Wolf: „Das Paradies kann sich rar machen, das ist so seine Art.“ Wie wunderschön. Sie weiß, dass es eines gibt.“
(Sabine Volk)
"Vielleicht gibt es bessere Zeiten, aber diese ist die unsere." (J.-P. Sartre)
In „Qu’est-ce que la littérature?“ formuliert Jean-Paul Sartre 1947 einen Appell zur Schaffung einer „Literatur der Praxis“, der nicht nur für die engagierte Literatur nach Auschwitz wegweisend ist. Sartre liefert mit dieser Schrift auch Antworten auf die Frage nach der Notwendigkeit eines intellektuellen Engagements von Schriftsteller*innen – gerade in Zeiten, in welchen immer mehr Menschen tiefgreifende gesellschaftspolitische Veränderungen fordern, wie aktuell die Anhänger*innen der "Occupy-Bewegung". Doch klammert er bei seiner Definition von „littérature engagée“ ausgerechnet die Gattung Lyrik aus. Ebenso Jean Améry, der in seiner Unterscheidung zwischen politischen und politisierenden Schriftstellern Sartres Begriff engagierter Literatur konkretisiert. Was bei Sartre, Améry, aber auch Adorno unbeantwortet bleibt, finden wir schließlich bei Paul Celan: In seiner Meridianrede begründet er eine „Lyrik der Praxis", welche – wie die engagierte Literatur insgesamt – in Zeiten wie diesen umso dringender gebraucht wird.
http://freieradios.net/44181 (Politische Lyrik als "Lyrik der Praxis")
http://freieradios.net/44184 (Occupy Movement - Stimmen des Protests)
„Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt“… Im zweiten Teil des kleinen Audio-Seminars zur Politischen Lyrik werden wir uns – ausgehend von Adornos Diktum, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben – tiefergehend mit Fragen der Theorie und Praxis Politischer Lyrik beschäftigen. In krassem Gegensatz zum Hintergrund der im März 2011 unter dem Titel „Macht. Gedichte“ gestarteten Reihe in DIE ZEIT (http://www.zeit.de/2011/11/Gedichte-ueber-Politik) wird Dichtung nach Adorno gerade dadurch politisch relevant, indem sie sich der Politik (insbesondere der aktuellen Tagespolitik) verweigert. In der Auseinandersetzung mit Adorno und Celan wird deutlich, dass sich Theorie und Praxis in der „engagierten Dichtung“ allgemein – und besonders im politischen Gedicht – im Ruf nach einer „Atemwende“, einem Richtungswechsel, einer „Umkehr“ im Sinne einer „Heimkehr zur (Mit-) Menschlichkeit“ treffen. (Paul Celan, Meridianrede, 1960.)
"In seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ schreibt Theodor W. Adorno 1957, dass „nur der versteht, was das Gedicht sagt, wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt“. Seine Forderung an die Lyrik impliziert einen in der Freiheit des Gedichts zum Ausdruck kommenden Protest gegen den vom Einzelnen je individuell als negativ empfundenen gesellschaftlichen Zustand. Diesem Appell Adornos entsprechend schreibt der Lyriker Paul Celan 1960 in seiner berühmten „Meridian-Rede“, dass Dichtung gar eine „Atemwende“ – einen Richtungswechsel, eine „Umkehr“ im Sinne einer „Heimkehr zur (Mit-) Menschlichkeit“ und somit einen existentiellen gesellschaftlichen Wandel – bedeuten könne."
(Aus dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Potsdam: SoSe 2011)
"IDENTITÄTSSOG" von Monika Rinck (2011):
montags : 19:00 – 02:00 uhr auf: 90,7 MHz POTSDAM + 88,4 BERLIN
Es reicht
oder
Vom aufrechten Gang
- für B.B. -
Demütigung,
Verrat und
Herzlosigkeit.
Oder doch
einfach nur
Hilflosigkeit,
menschliche Schwäche
und Unvernunft?
Gerade als
die Wahrhaftigkeit
meinen Fehdehandschuh
ergreift,
und mich
die kalte Klarheit
ihres
ungeschminkten
Antlitzes
gnadenlos
in die
Knie zu zwingen
droht –
gesellst Du
Dich
zu mir.
Stärkst mir
den Rücken.
Wärmst
mein
Herz.
Lässt mich
aufrecht
gehen.
Danke.
(Sabine Volk)
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M.B. (vendredi, 14 octobre 2011 21:50)
Lyrik, und gerade auch die politische, lebt von der Beziehung zwischen Mensch und Text. Wenn um Inhalte gerungen wird, wenn die innere Unruhe den Lesenden umtreibt, dann beginnt die Aktualisierung der "alten Kamellen", dann wird der Mensch gezwungen, sich in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Gegenwart zu verorten und Position zu beziehen.
Dass der Begriff der Aktualisierung im zweiten Audioseminar eine Rolle spielt und dies in zweifacher Form - in der Kommunikation mit dem Text und in dem Schreiben eigener Texte - ist gar nicht hoch genug anzurechnen. Denn gerade hier liegt die Sprengkraft aller Lyrik, was leider zu oft im akademischen Diskurs vergessen wird.
Beatrice (Tuebingen) (samedi, 05 novembre 2011 14:03)
Was von den meisten Dozenten, Intellektuellen usw. zu oft vergessen wird, ist der menschliche Kern jeder literarischen Botschaft. Es sei Lyrik oder Prosa, Malerei oder Musik geht es immer um die Sprache eines Menschen, die auf irgendwelcher Weise zum Ausdruck kommt. Ein politischer Bericht, ein Schrei, ein Schweigen... - in diesem Kern steckt immer etwas, das nach Ausdruck und nach Zuhören strebt. Im Seminar "Politische Lyrik" ist gerade das Menschliche an der Literatur, das ans Licht kommt, dieses Menschliche, das sonst so oft in Vergessenheit geriet, verschluckt von gekünstelten Interpretationen, die nirgendwohin führen und von Bildungssystemen und - Bedingungen, die Autoren und Nachwüchse dem „Geschwinde“ opfern und die „Atempause“, die jedes Kunstwerk braucht, untersagen. „Niemand kann sagen, wie lange die Atempause – das Verhoffen und der Gedanke – noch fortwährt. Das Geschwinde hat an Geschwindigkeit gewonnen; das Gedicht weiß das; aber es hält unentwegt auf jenes Andere zu, das es sich als erreichbar, als freizusetzen, als vakant vielleicht, und dabei ihm, dem Gedicht zugewandt bleibt“ (P. Celan)
Anne Altenburg (dimanche, 06 novembre 2011 23:10)
Liebe Sabine!
Wie schön, dass ich als Nicht-Studentin in den Genuss Deines Seminares komme. Gerade wo ich schon immer politische Lieder schreiben wollte und es dann auch mit Dir zusammen geschafft habe, bringt mich der Anstoß Deines Seminares vielleicht zum Dichten? Es muss ja nicht immer eine Melodie dabei sein.
Habe also gerade eben meinem Welt-Frust Luft gelassen und es so richtig genossen, wie die Worte eine stille Form auf dem Papier/Bildschirm annehmen.
mensch
mensch heit
eitel keit
zerrissen heit
einsam keit
mensch, mensch, mensch.
eitel, zerrissen, einsam.
Familie? Gemeinschaft? Liebe?
Geben und Nehmen? Mit Sinn erfüllen und entwickeln? Unsere Erde?
EINE Welt?!? Mensch HEIT?!?
mensch, mensch, mensch.
Klug heit
Gemeinsam keit
Bescheiden heit
Heiter keit,
mensch, mensch, mensch.
Klug, Gemeinsam, Bescheiden, Heiter.
leid
krieg
hunger
sprachen
tradition
sprachlosigkeit
GRENZEN, GIER, GELD
zerstörung
mensch, mensch, mensch.
Evelyn (lundi, 07 novembre 2011 17:48)
Ganz großartiges Audioseminar. Beeindruckend, wie hier hohes Niveau in eine Form gegossen wird, so dass sich jeder und jedem, auch Menschen ohne lyrische Vorerfahrungen, ein Zugang zu politischer Lyrik und ihrer Kraft erschließen dürfte. Inspirierend! Danke!
Beatrice (vendredi, 20 janvier 2012 17:53)
"Vielleicht darf man sagen, dass jedem Gedicht sein 20. Jaenner eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: dass hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?" P. Celan
Tuebingen, 20. Januar 2012